Die Schwäbische Zeitung berichtet am 06. März 2024 über die Artothek in Filderstadt …
„In Artotheken können Kunstwerke mehrere Monate ausgeliehen werden, um sie in den eigenen vier Wänden zu bestaunen. Was ein solches Angebot bewirken soll.
Es ist ein wenig eng, hier ganz oben im Fachwerkhaus der Stadtbücherei in Biberach. Links und rechts sind flache, längliche Kartons streng geordnet einsortiert. Frank Raumel bückt sich und zieht zielsicher einen davon heraus. „Da ist es“, sagt er.
Behutsam holt er „einen Klassiker“ aus dem Karton: „Kopfschmerz“ von Elvira Bach. Der Bibliotheksleiter der Stadtbücherei hält ein Gemälde in der Hand. Die bunten Farben stechen direkt ins Auge. Zu sehen ist eine Frau auf quietschgrünem Hintergrund – auf ihren Kopf sind ein Anker und ein zerbrochenes Herz gemalt.
Leihsystem gibt es schon seit einigen Jahren
„Und für sechs Euro könnte das Bild jetzt bei jedem im Wohnzimmer hängen.“, sagt Raumel. Oder der Küche, dem Schlafzimmer – ja selbst auf dem stillen Örtchen, wenn es einem dort besonders gefällt. Denn das Bild kann man sich in der Biberacher Stadtbücherei ausleihen, das Werk von Künstlerin Elvira Bach ist Teil der sogenannten Artothek hier – und zwar ein recht beliebtes Stück.
Artotheken verleihen für kleines Geld Originalgemälde, Fotografien und andere Werke und machen es so möglich, dass man zeitgenössische Kunst vorübergehend auch in den eigenen vier Wänden bestaunen kann.
In Biberach gibt es das Leihsystem für Kunstwerke schon seit 1982. „Im Startbestand waren damals 72 Holzdrucke von Fritz Lang“, erzählt Raumel. In den mehr als vier vergangenen Jahrzehnten sind allerdings etliche Kunstwerke dazugekommen. Manche wurden angekauft, andere von regionalen Künstlern geschenkt. Auch das Bild von Elvira Bach war eine Schenkung, Raumel geht davon aus, dass das Bild auf dem Kunstmarkt wohl ein paar tausend Euro wert wäre.
Mittlerweile hat die Artothek in Biberach ganze 474 Werke von rund 200 Künstlern in ihrem Bestand. Zwar hängen hier keine Monet- oder originalen Picasso-Gemälde, aber doch viele Werke in Deutschland bekannter Künstler. „Wir freuen uns, dass wir dieses Angebot hier haben, weil es für viele Kunden eine schöne Möglichkeit ist, ihre Wände mit anspruchsvoller Kunst zu bestücken und die Werke und ihre Künstler viel intensiver kennenzulernen“, sagt Raumel.
Mehr Menschen für Kuns begeistern
Und die Auswahl ist groß. Realismus, Expressionismus, abstrakte Kunst: „Es ist für jeden Geschmack etwas dabei“, so der Bibliotheksleiter. In Biberach gebe es neben Neukunden, die das Angebot der Artothek wahrnehmen, „vor allem eine große Zahl an Stammkunden“, so Raumel. „Die tauschen und leihen regelmäßig neue Werke aus.“ Manche hätten dafür sogar eine Bilderschiene in ihrer Wohnung angebracht. „Auch Arztpraxen, Kirchengemeinden oder Firmen, die mal etwas anderes in ihren Räumen haben wollen leihen hier Werke aus“, berichtet der Bibliotheksleiter.
Das Ziel der Artotheken ist klar: Sie wollen durch das Leihsystem ein möglichst niederschwelliges Angebot machen, um mehr Menschen für Kunst zu begeistern. Artotheken gibt es aber nicht nur in Metropolen wie Berlin, München oder Köln, sondern vielfach auch in kleineren Städten. In Baden-Württemberg neben Biberach beispielsweise auch in Balingen, Heidenheim oder Friedrichshafen.
Künstler reagieren positiv auf Konzept
Das Medienhaus am See in Friedrichshafen betreibt dort seit 2017 eine Artothek. „Das Angebot wird gut wahrgenommen. Die Kundschaft kommt mit einem gewissen Grund-Interesse an Kunst in die Artothek und kann durch die Ausleihe tiefer in die Bildende Kunst eintauchen“, sagt Artotheken-Leiterin Kathrin Lörcher. 180 originale Werke befinden sich derzeit am Bodensee, eine Ausleihe kostet zehn Euro pro Gemälde für 12 Wochen. „Da die Kunstwerke Originale und oft sogar Unikate sind, kann der Kaufpreis eines dieser Kunstwerke bis zu einem Hundertfachen höher sein als die Ausleihgebühr in der Artothek“, so Lörcher.
Auch die Künstler hätten bisher ausschließlich positiv auf das Konzept reagiert und nie Bedenken bezüglich des Zustandes ihrer Kunst geäußert. „Die Kunstwerke werden für den Ausleihbetrieb gerahmt und in säurefreien, alterungsbeständigen und archivgerechten Tragetaschen entliehen, damit sie so gut wie möglich geschützt sind“, erklärt die Leiterin.
Artotheken machen Kunstwerke zugänglich – und zwar nicht elitär, sonder für geringe Kosten und für längere Zeit.
Insgesamt gibt es im Südwesten zwölf Artotheken, die auch in Deutschlands einzigem Artothekenverband organisiert sind. Bundesweit gehören diesem 113 Einrichtungen an, bestätigt Ina Penßler, beim Verband für Baden-Württemberg zuständig. „Wir betrachten Artotheken als Bildungs- und Kulturauftrag. Viele Kommunen fördern so vor allem lokale Künstler durch den Ankauf von Kunstwerken. Und Artotheken machen diese Kunstwerke zugänglich – und zwar nicht elitär, sondern zu geringen Kosten und für längere Zeit“, betont Penßler.
Ursprünge der Artotheken
Viele Artotheken sind finanziell auf die Kommunen angewiesen, häufig sind sie an Stadtbibliotheken angegliedert. „Der Gemeinderat muss den politischen Willen haben für ein solches kulturelles Angebot“, erklärt Penßler. „Artotheken sind das Zugänglichmachen unseres Kulturguts.“
Tatsächlich gibt es Artotheken schon ziemlich lange. Die Ursprünge liegen im 18. und 19. Jahrhundert, als der Handel mit gedruckten Büchern auch den Handel mit gedruckter Kunst einschloss. Im ersten und zweiten Weltkrieg und mit der Kulturpolitik der Nationalsozialisten kam das Leihsystem für Kunstwerke zum Erliegen. Erst ab den 1960er-Jahren wurden in Deutschland wieder Artotheken gegründet.
Geringe Leihkosten für die Gemälde
Schon von Beginn an waren die Leihgebühren sehr bescheiden – in Biberach liegen sie aktuell bei sechs Euro für ein halbes Jahr, vorausgesetzt man hat einen Stadtbücherei-Ausweis. So soll der Umgang mit Kunst auch denen ermöglicht werden, die finanziell nicht über die Mittel verfügen, Kunst zu kaufen. „Die Kosten sind also recht überschaubar“, sagt Biberachs Bibliotheksleiter Raumel.
In den Gängen der Stadtbücherei hängen zwischen gut sortierter Literatur überall Gemälde, die man in der Artothek ausleihen kann. „Interessenten können sich die Bilder vorab auch online bei uns anschauen, aber wenn sie hier hängen, wirken sie natürlich intensiver“, sagt er. Vor einem Werk von Wolf Helzle bleibt er stehen: Homo Universalis. „Im Prinzip sieht man nur ein Gesicht, aber der Künstler hat tausende Porträtaufnahmen verschiedener Menschen übereinander gelegt“, erklärt Raumel.
Am Ende komme ein Gesicht unserer menschlichen Gemeinschaft dabei heraus. Insgesamt 290 Werke hat die Artothek in Biberach vergangenes Jahr für je sechs Monate verliehen, eine Steigerung von drei Prozent. Auch die Künstler seien dankbar, wenn mehr Menschen mit ihrem Schaffen in Berührung kommen. „Für einen Künstler ist es wichtig, dass man sieht, was er tut. Da ist die Artothek der ideale Verteiler“, so Raumel.
Diese Einschätzung bestätigt Jutta Stoerl Strienz. Sie ist Vorsitzende des Verbands Bildender Künstler und Künstlerinnen Baden-Württembergs (VBKW) und sagt: In der Artothek „wird Kunst keinesfalls verramscht.“ Sie glaubt aber, dass das generelle Interesse an Kunst und Kultur gerade bei jungen Menschen kaum noch vorhanden ist. „Es gibt zu viel anderes, was attraktiver daherkommt.
Immer weniger Interesse an Kunst
Wenn es nicht bereits in der Schule gelingt, die Bedeutung von Kunst für die Gesellschaft anschaulich zu vermitteln, dann stellt sich das Interesse an Kunst später kaum mehr ein“, sagt Stoerl Strienz. Sie fordert mehr Förderungen aus der Politik wie Ankäufe, Projektzuschüsse oder Atelierräume. „Die Kunstszene ist ein Wirtschaftsfaktor, wird jedoch von Politikern eher wenig wahrgenommen“, so die VBKW-Vorsitzende.“