In der Kunstsammlung des Deutschen Bundestags befinden sich zahlreiche Porträts von Abgeordneten von der Frankfurter Paulskirche über die Weimarer über die Bonner Republik bis in die heutige Zeit. Eines stammt von Warhol.
Die Präsidentinnen und Präsidenten des Deutschen Bundestages werden in einer eigenen Porträtgalerie im Reichstagsgebäude gewürdigt, andere Porträts werden von Abgeordneten für ihre Büros ausgeliehen.
Eines der überraschendsten Werke dieses Sammlungsteils dürfte ein Porträt von Willy Brandt sein – nicht, weil es den einstigen Abgeordneten des Deutschen Bundestags (1949 – 1957) und späteren Kanzler der Bundesrepublik Deutschland (1969 – 1974) zeigt, sondern weil es ein echter Warhol ist.
Die Geschichte des Porträts ist ein Lehrstück für den Dialog zwischen Kunst und Politik, ein äußerst amüsantes noch dazu: Im Jahr 1976 existierten demnach zunächst die Porträts von Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt-Georg Kiesinger als Teil einer bislang nicht geschlossen gehängten Kanzlergalerie. Erst Helmut Schmidt ließ sie an die Wände des neuen Kanzleramts hängen. Da Willy Brandt, der 1974 aus dem Amt geschieden war, bislang in der Ahnenreihe fehlte, beauftragte Schmidt sein Büro im Frühjahr bei Brandt nachzufragen, welchen Maler er für diese Aufgabe vorschlagen würde. Erst wenige Wochen vor dieser Anfrage, im Februar 1976, war Brandt von Andy Warhol besucht und in der Bonner Galerie Wünsche unter enormem Presseecho porträtiert worden.
Selbstredend bedeutete der Terminus„porträtieren“bei dem New Yorker Pop-Art-Künstler etwas ganz anderes als bei den deutschen Malern: Warhol fertigte im oberen Stock der Bonner Galerie Wünsche in wenigen Minuten 26 Polaroid-Aufnahmen mit Ansichten des zumeist Zigarette rauchenden Staatsmannes an und verwandelte sie später in einen seiner typischen, auf Leinwand gedruckten und durch unterschiedliche Farbgebung unikatisierten Siebdrucke, mit denen er schon Elvis Presley, Marilyn Monroe oder Liz Taylor als Ikonen der neuen Zeit stilisiert hatte. Vielleicht kann man sagen, dass Warhol sich mehr als alle anderen Künstler seiner Zeit für den alten europäischen Topos des Herrscherbildnisses und der Ikone interessierte. Nur, dass er ihn nicht bediente, sondern in sein Gegenteil wandelte, indem er eben nicht die Repräsentanten und Herrscher eines Staates, sondern die Helden der neuen, von Massenkonsum und Massenmedien gekennzeichneten Zeit zum Sujet erhob. Wohlgemerkt, er porträtierte nicht nur die Musik- und Filmstars, sondern auch Mickey Mouse oder das namenlose Pin-up-Girl und demonstrierte damit eine Umkehrung des bisherigen Prinzips: Seine Bilder schufen nicht Macht, sondern dokumentierten Bildmächtigkeit. Wer oder was visuell präsent war, wurde zu einem seiner Porträts – und zwar so verfremdet und stilisiert, dass im Bildnis gerade nicht mehr erkennbar war, welche Persönlichkeit sich dahinter verbarg, was ihr Wesen ausmachte oder ihre Taten kennzeichnete. Um dies zu erkennen, gab es ja die unendliche Bilderflut der Medien.
Brandt, der Nobelpreisträger und erste deutsche Staatsmann von weltweitem Ruhm, gehörte seiner Meinung nach in diese Reihe (Warhol:„Er sollte wirklich auf die Politik verzichten und Filmstar werden!“[1]), auch wenn die Idee dazu wiederum auf einen Galeristen zurückging: Hermann Wünsche hatte nur zwei Jahre zuvor bei einem Besuch in New York angeregt, Warhol könne doch auch eine Reihe herausragender Deutscher porträtieren.[2] Angefragt wurde Brandt, der unter der Bedingung zustimmte, dass eines der entstehenden Porträts zugunsten von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, versteigert werde.[3] Warhol und der Galerist willigten ein; das Zusammentreffen wurde als eines der großen Kulturevents des Jahres wahrgenommen und in allen Zeitungen kommentiert. Nur, dass die achtzig euphorisch gestimmten Journalisten gar nicht so viel zu berichten bekamen, wie gedacht. Das Treffen dauerte, wie gesagt, kaum mehr als eine halbe Stunde, und die Konversation blieb dürftig:
Brandt:„How long do you stay in Bonn?“, Warhol:„Tomorrow Morning.“, Brandt:„It’s nice.“
Der gleiche Dreisatzaustausch wiederholte sich zum Ende des Treffens.
Im Ergebnis entstanden sechs Bildnisse, die im Juli 1976 in der Galerie Wünsche der Öffentlichkeit vorgestellt wurden: fünf mit Zigarette, eines ohne. Die Fotos vom Ereignis wurden vom etwa sieben mal sieben Zentimeter großen Polaroid auf etwa einen Meter mal einen Meter vergrößert, so dass am Ende ein formatsprengendes Kopfporträt auf die Leinwand kam, bei dem große Farbflächen den Hintergrund bildeten und die Kleidung und die Gesichtsteile auf wenige Elemente reduziert wurden.
Dabei ging die Binnenkonturierung der Oberflächen an vielen Stellen verloren – die Stilisierung zur Ikone vollzog sich so eben auch formal im Werk: Warhol ging es nicht um den individuellen Brandt, sondern um ein generalisierbares, auch in den Formen abstrahiertes Bild. Die Zigarette, die er beim Fototermin in der rechten Hand hielt, war dabei wichtiges Stilelement. Im Siebdruck erscheint sie – die Umwandlung eines Fotopositivs in einen Siebdruck bedingt eine Seitenverkehrung – in der linken. Vor allem zeigt der Vergleich zwischen beiden Fassungen, dass die Geste des Rauchens: die gestreckte Hand mit Zigarette im Mundstück vor den leicht geöffneten Lippen dazu dient, das„gewisse Etwas“ins Bild zu bringen. Der Blick Brandts in die Kamera – nach der Umwandlung ist dies der direkte Blick zum Betrachter – und der eingefrorene Moment einer Bewegung geben Brandt etwas Exaltiertes und setzen die Idee eines Stars auch motivisch um. Dieser Impetus fehlt der Einzelarbeit ohne Zigarette völlig. Sie entstand auf besonderen Wunsch des Galeristen und ist eindeutig das staatstragende, das für ein Kanzlerbildnis geeignete Porträt, in dem nicht einmal die grelle Popfarbigkeit die Würde des Dargestellten zu schmälern vermag.
Doch Brandt empfahl keine der Arbeiten für die Kanzlergalerie. Dem Kanzleramt antwortete er, dass er ein Porträt von Georg Meistermann, das wenige Jahre zuvor fertig gestellt worden war, für die geeignete Wahl halte und deshalb zum Ankauf empfehle. Das Schicksal des Meistermann-Porträts ist aber eine andere Geschichte.
Warhols Porträt ohne Zigarette kam 2004 in die Sammlung des Deutschen Bundestags, als sich die einmalige Chance eines Ankaufs ergab. Es ist heute Teil der Artothek. (kvo*)