Artothek Dachau: „Leihwand“

Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 16. Feb. 2023 über die Artothek Dachau und das Ankauf- und Leihsystem …

Dachauer Ansichten der Dachauer Artothek (Foto: Stadtbücherei Dachau)

„Ist das Kunst oder kann man das ausleihen? In der Artothek Dachau werden jährlich rund 260 Bilder geborgt. Die Künstlerstadt investiert bis zu 30 000 Euro, um die Werke zugänglich zu machen. Zu Besuch bei Menschen, die sich lokale Kunst übers Sofa hängen.

Von Jessica Schober

Die weiße Wand gähnt über dem schwarzen Sofa. Die freie Fläche ruft förmlich nach einem großformatigen Bild. So jedenfalls empfindet es Heike Schmidt-Daumann, wenn sie ihren Blick in das Wohnzimmer ihres Dachauer Altstadtreihenhauses wandern lässt. Doch welche Kunst soll da am besten hängen? Welches Gemälde ist großformatig und doch alltagstauglich genug, um es jeden Tag vom Küchentisch aus zu betrachten? Sie entscheidet sich schließlich für einen Gang in die Dachauer Artothek, um eine Leinwand zum Ausleihen zu finden. Seitdem hängt über dem Sofa der Familie ein monochromes graugrünes Quadrat, auf dem zwei kleine gemalte Würfel Schatten werfen. Ein namenloses Werk von Christoph Kern, 1,50 mal 1,40 Meter groß. „Das darf da jetzt hängen bleiben, das ist zeitlos.“

Heike Schmidt-Daumann ist eine von zahlreichen kunstaffinen Nutzerinnen der Dachauer Artothek – einer Art Bibliothek für Kunst. Die Stadt Dachau, die sich mit ihrer Vergangenheit als Künstlerkolonie und Zentrum für Freiluftmaler sowie ihrer Mitgliedschaft im Euroart-Verband als Künstlerstadt versteht, investiert selbst beherzt in Kunst: Der Ankaufsetat von rund 30 000 Euro im Jahr ist ungewöhnlich hoch für eine bayerische Kleinstadt. Und mit der Artothek sollen Werke, die die Stadt erworben hat, der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden.

Im vergangenen Jahr wurden 260 Bilder der verfügbaren rund 750 Exponate ausgeliehen, erzählt Bücherei-Mitarbeiterin Alexandra Maly: „Ein Großteil der Leihgaben ist Amtsraumschmuck, der dauerhaft verliehen ist.“ Einige Skulpturen lagern auch im Depot, sie sind zu filigran zum Verleihen. Versichert sind die Kunstwerke über die Haftpflichtversicherung der Ausleihenden. Bislang sei nur einmal ein Rahmen beschädigt worden und dann von den Ausleihern ersetzt worden, erzählt Maly. Die Leihdauer für Privatinteressenten beträgt zunächst ein halbes Jahr, „wir verlängern aber großzügig“. Benötigt wird dafür nur ein Mitgliedsausweis bei der Dachauer Stadtbücherei. Und ein Quäntchen Entschlusskraft, denn bei der Vielzahl der Werke fällt es gar nicht so leicht, sich für das eine oder andere Exponat zu entscheiden.

Roland Thomas ist Kunsthistoriker, sein Blick ist in Ästhetik geschult. Der 70-jährige ehemalige Verlagsleiter und Lektor hat schon zu Studienzeiten seine Magisterarbeit über die Buchmalerei des Mittelalters geschrieben. Seit gut fünf Jahren leiht er sich regelmäßig zwei bis vier Bilder in der Artothek Dachau aus. Momentan hängen zwei Werke des 2017 verstorbenen Malers Thomas Vesely in seinem Wohnzimmer in Langenpettenbach, zwei weitere in seiner Wohnung in Schwabing. Eines zeigt einen Blick auf die Dachauer Altstadt, in zinnoberrot, zitronengelb, umgeben von gedeckten Tönen. Veselys Kunst gehört zu Thomas‘ Lieblingsleihwänden: „Er hat großformatig und nah an der Realität gemalt und oft die Amper und Dachauer Stadtansichten als Motiv gewählt“.

Die gewünschten Kunstwerke sucht sich der Kunsthistoriker in der umfangreichen Liste der Artothek vorab aus, ein PDF-Dokument, das über die Webseite der Stadtbücherei einsehbar ist. „Da muss man sich ganz schön durchscrollen“, sagt er. Manchmal sei nicht alles vorrätig, was er gern ausleihen würde. Dann wartet er eben ab. In seinen Wohnräumen hat Roland Thomas auch reichlich andere Kunst hängen, „die Wände sind eigentlich voll“. Doch durch die regelmäßige Fluktuation der Artothekbilder verändere sich sein Zuhause ständig: „Man guckt viel bewusster, wenn da etwas Neues hängt.“

Jährlich kauft die Stadt etwa 20 bis 40 Werke dazu, erzählt Kulturamtsleiter Tobias Schneider. Die Entscheidung, welche Kunstwerke angekauft werden sollen, trifft Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD), so manchen roten Punkt klebt er bei Vernissagen und Ausstellungsbesuchen auf Auserwähltes. Dass die Stadt auch in Krisenzeiten an ihrem Kunstbudget festhält, hängt laut Schneider mit ihrem Selbstverständnis als Künstlerstadt zusammen, „das ist eine Besonderheit dieses Ortes“.

95 Prozent dieser Ankäufe seien für jeden zugänglich, sagt der Kulturamtsleiter. Kunstwerke aus der Artothek hängen aber auch im Rathausfoyer und in den Büros der Verwaltungsmitarbeiter. „Vor zehn, 15 Jahren hingen in den Büros noch sehr viele alte Gemälde aus den Zeiten des früheren Oberbürgermeisters Lorenz Reitmeier. Aber das ändert sich“, sagt Schneider. In seinem Büro hat er das Kunstwerk der lokalen Künstlerin Annekathrin Normann hängen, einen großen goldenen Rahmen, in dem auf einem winzigen Zettel das Wörtchen „Kulturpolitik“ festgehalten ist. Manchmal, erzählt Schneider, komme es auch vor, dass sich ein Artothekskunde in ein Bild verliebe und es der Stadt abkaufen wolle. In der Regel überwiege jedoch die Freude an der kostenfrei geteilten Kunst den Besitzwunsch.

Das war auch bei Heike Schmidt-Daumann so. „Irgendwann wollten wir einfach nicht mehr mit Kunstdrucken aus dem Möbelhaus leben.“ Persönlich investiert hat die Immobilienbewerterin zum Beispiel in ein Gemälde des Dachauer Malers Paul Havermann, der früher ihr Kunstlehrer war. Andere Kunst kaufte sie nicht, sondern lieh sie aus. Wie den Fotodruck über dem Sofa im Gästezimmer, ein Bild der Dachauer Fotografin Lilly Karsten, das einen Haimhauser Wald aus der Vogelperspektive zeigt. Das Bild würde sie am liebsten nicht mehr hergeben, auch die Wandfarbe hat sie darauf abgestimmt. In ihrem ganzen Altstadtreihenhaus hängt überall Lokales: Ein Bild der Dachauer Künstlerin Gigi im Bad, ein früher Havermann im Gästeklo. Ausgeliehen hat sie momentan vier Werke aus der Artothek. Der Gedanke, Kunst zu teilen, hat sie inspiriert: Das grüne Havermann-Gemälde im Flur hat sie neben das Fenster bei der Haustür gehängt, so dass das Kunstwerk auch für Passanten in der Färbergasse einsehbar ist. Weil Kunst eben für alle da sein soll.“

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